Radikalisierung

Zusammenfassung

  • Trotz (oder wegen) des wachsenden Forschungsinteresses an der Thematik und der steigenden Anzahl an Publikationen gibt es bislang keine einheitliche Definition des Begriffes Radikalisierung.
  • Unterschiedliche Betrachtungsweisen und Konzepte des Phänomens unterscheiden sich vor allem darin, ob sie Gewalt als ein notwendiges Kriterium der Radikalisierung betrachten oder nicht. Die vorherrschende Meinung in der Radikalisierungsforschung versteht darunter einen Prozess des Überganges von gewaltfreien zu gewalttätigen Aktionsformen.
  • Auf der Makroebene (Gesellschaftsebene) spielen politische Gelegenheitsstrukturen eine wichtige Rolle. Vor allem die Art der Interaktionen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften kann entweder gewalteskalierend oder gewaltdeeskalierend wirken.
  • Auf der Mesoebene (Gruppenebene) wird der Dynamik innerhalb von Organisationen und Gruppen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die eine Radikalisierung befördern.
  • Das Individuum mit seiner Motivation, Wahrnehmung des gesellschaftlichen Kontextes und Verortung in Netzwerken steht im Forschungsfokus auf der Mikroebene.

Radikalisierung – Begriffsdefinition

Das Interesse von Wissenschaftler*innen an Radikalisierungsprozessen nimmt nach den Terroranschlägen von al-Qaeda am 11. September 2001 schubhaft zu und wächst im Laufe der Debatten über den sogenannten „home-grown“ Terrorismus in westeuropäischen Ländern.[1] Dabei kommen die jüngeren Forschungsimpulse vor allem aus zwei Forschungsfeldern: aus der Terrorismusforschung[2] und der sozialen Bewegungsforschung.[3] Beide Felder beeinflussen und bereichern einander. So wurden etwa in der Terrorismusforschung einige Elemente aus der Forschung zu sozialen Bewegungen übernommen, wie z.B. das Framing-Konzept in Studien zu Radikalisierung. Auch finden sich gemeinsame Forschungen von Wissenschaftler*innen aus beiden Feldern.[4] Die Anzahl an Forschungsarbeiten in diesem Bereich wächst permanent und das Interesse an Radikalisierung als „one of the great buzzwords of our time“[5] ist in den letzten beiden Jahrzenten stark gestiegen. Nichtdestotrotz bleiben viele Fragen unbeantwortet und es herrscht keine Einigkeit darüber, was man unter Radikalisierung versteht.[6]

Was aber wird unter Radikalisierung genau verstanden? Der Begriff leitet sich vom Adjektiv radikal ab. Letzterer stammt vom mittellateinischen Wort radicalis ‚bis auf die Wurzel, bis zum äußersten (gehend), gründlich, gänzlich, rücksichtslos, rigoros‘. In der deutschen Sprache wandelte sich der Begriff „radikal“ im Laufe der Zeit deutlich und bedeutet heute ‚extrem eingestellt, kompromisslos, unnachgiebig‘.[7] Der Begriff entwickelte sich von einem ursprünglich positiv zu einem negativ konnotierten Konzept im gegenwärtigen Diskurs. Wurden im 18. Und 19. Jhd. etwa politische Wandlungsprozesse als „radikale Reform“ oder Vertreter*innen des politischen Liberalismus als „Radikale“ bezeichnet, wird der Begriff heutzutage überwiegend mit politischem Extremismus gleich welcher Couleur gleichgesetzt.[8] Die Radikalisierung wird als Prozess der Hinwendung zu einer radikalen Haltung begriffen und weist durch ihre spezifische politische Bedeutung auf die Infragestellung der politischen Ordnung hin.

Während der Begriff früher auf eine Erweiterung der Demokratie gerichtet war, bezeichnet er heute zumeist eine Abwendung von demokratischen Prinzipien. Zugleich ist der Begriff radikal nicht nur zeit-, sondern auch kultur- bzw. länder- und politikspezifisch. Seine Bedeutung bzw. Interpretation hängt davon ab, was in der jeweiligen Gesellschaft bzw. in der jeweiligen politischen Ordnung als ‚mainstream‘ gilt. Nach Neumann gilt die Meinungsfreiheit in Nordkorea als radikal, gehört in westlichen Demokratien dagegen aber zu den Grundrechten bzw. ist „mainstream belief“.[9] Auch innerhalb der westlichen Demokratien finden sich Unterschiede, wie sich etwa anhand der unterschiedlichen Wahrnehmungen militanter Proteste in Deutschland und Frankreich zeigt.[10]

Radikalisierung und politische Gewalt

Das wohl zentralste Unterscheidungskriterium verschiedener Radikalisierungs-Konzepte ist der Gewaltbezug. Für eine Reihe von Autor*innen gilt die Anwendung von politischer Gewalt[11] als das Hauptkriterium der Radikalisierung. Dieses enge Verständnis von Radikalisierung ist besonders verbreitet und wird als „das ‚klassische‘ Verständnis von Radikalisierung“[12] wahrgenommen. Sowohl im Bereich der Terrorismus- als auch in der sozialen Bewegungsforschung gibt es Wissenschaftler*innen, die politische Gewalt als „Endpunkt der Radikalisierung“[13] betrachten. Einige Terrorismusforscher*innen verstehen Radikalisierung als einseitigen Prozess, der zur Anwendung tödlicher Gewalt führt, um eigene politische Ziele zu erreichen.[14] Die Bewegungsforscher*innen Bosi und della Porta verstehen unter Radikalisierung „an individual or organizational process that leads to a shift from nonviolent forms of action to violent ones in order to promote or oppose political, social, and/or cultural change“.[15]

Diesem enggefassten steht in der Forschung ein weiter Radikalisierungsbegriff gegenüber, der Gewaltanwendung nicht als notwendiges Kriterium konzipiert; das Hauptmerk liegt hier eher auf dem eingesetzten bzw. vollzogenen Wandel auf der ideologischen Ebene.[16] Eckert etwa versteht unter Radikalisierung „einen Prozess, in dem sich der Gegensatz zwischen ideologischen Positionen und sozialen Gruppen verschärft, weil eine oder beide Seiten sich zunehmend auf die von ihnen unterstellte ‚Wurzel‘ des Konflikts beziehen“.[17] Ähnlich plädieren Bartlett und Miller dafür, dass außer Radikalisierung in die Gewalt (violent radicalization) auch Radikalisierung ohne Gewalt (non-violent radicalization) stattfinden kann. Demnach bedeutet ‚radikal zu sein‘ zwar die Ablehnung des Status quo, dies muss aber nicht unbedingt auf eine gewaltsame Art und Weise geschehen, d.h. terroristische Aktivitäten werden weder unternommen, noch unterstützt oder gefördert.[18] Abay Gaspar et al. treten ebenso für einen Radikalisierungsbegriff ein, der die Gewalt nicht notwendigerweise voraussetzt, und definieren Radikalisierung als „die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionelle Struktur dieser Ordnung zu bekämpfen“.[19]

Malthaner hält ebenso beide Formen der Radikalisierung – Radikalisierung in die Gewalt und Radikalisierung ohne Gewalt – für berechtigt. Dem Autor zufolge kann die Entwicklung der Radikalisierung als ein sozialer Prozess auf zwei Weisen verlaufen: a) als Transformation von Zielen, Einstellungen und Vorstellungen oder b) als Verhaltensveränderungen in Richtung der Gewaltanwendung. Daraus ergibt sich die Definition von Radikalisierung als eine sukzessive Annahme von extremistischen Ideen (Radikalisierung des Gedankenguts) bzw. Verschiebungen in Richtung Gewalt (Verhaltensradikalisierung).[20] Aus dieser Perspektive wird die Radikalisierung auf der Einstellungsebene als Vorstufe der Radikalisierung auf Verhaltensebene denkbar. Knapp zusammengefasst besteht keine Einigkeit über „the end-state of radicalization“.[21]

Unabhängig davon, wie Radikalisierung definiert wird, sind sich Wissenschaftler*innen in der Frage einig, „dass es sich um einen Prozess – also eine Anzahl von Vorgängen, die sich über einen gewissen Zeitraum hinweg abspielen – handelt“.[22] So unterstreichen McCauley und Moskalenko, dass die Radikalisierung kein plötzliches Ereignis, sondern einen in der Regel langsamen und sukzessiven Prozess dargestellt.[23] Umstritten ist aber, wie diese Vorgänge ablaufen, was sie beinhalten und wie sie enden.[24]

Sowohl einzelne Individuen als auch kollektive Akteure, wie z.B. (soziale) Bewegungen können Radikalisierungsprozesse durchlaufen. Sie finden sowohl zwischen Akteuren, die den gegenüberstehenden Konfliktparteien angehören, als auch innerhalb einer Gruppe bzw. Bewegung statt.[25] Die Radikalisierung kann sowohl einen top-down- als auch bottom-up Verlauf annehmen. Als Beispiel für erste gilt die Radikalisierung des nationalsozialistischen Deutschlands ab 1933, für die zweite wiederum die Radikalisierung der französischen Gesellschaft um 1789.[26]

Radikalisierung von links aus relationaler Perspektive

Inzwischen haben Forscher*innen verschiedener Disziplinen unterschiedliche Radikalisierungsmodelle und Ansätze entwickelt.[27] Im Folgenden wird die sogenannte relationale Perspektive vorgestellt, die Radikalisierung als Ergebnis von Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren begreift. Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass er verschiedene Handlungsebenen integriert (z.B. politische Gelegenheitsstrukturen, Organisationswettbewerb) sowie Wechselwirkungen berücksichtigt. Zentral ist dabei die Annahme, dass Radikalisierung ein Ergebnis komplexer Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen und institutionellen Akteuren ist.[28]

a)    Makroebene

Auf der Makroebene spielen die politischen Gelegenheitsstrukturen (political opportunities) eine entscheidende Rolle dabei, wie sich soziale Bewegungen verhalten. Hierzu gehört z.B. der Zugang zu politischen Institutionen oder die Intensität der politischen Repressionen gegenüber Protestierenden, Reaktionen im Bewegungsumfeld sowie seitens der Behörden. Die politischen Gelegenheitsstrukturen prägen zudem die strategischen Entscheidungen der Individuen und legen deren Handlungsrahmen fest.[29]

Oftmals werden Radikalisierungsprozesse stark durch die Interaktionen von Protestierenden mit der Polizei geprägt. Der strategische Umgang der Sicherheitsbehörden mit Protestaktionen (z.B. ziviler Ungehorsam)[30] kann unterschiedlich sein: Die Polizei kann einerseits das Demonstrationsrecht gegenüber der Störung der öffentlichen Ordnung privilegieren und geringfügige Verstöße tolerieren sowie sanfte Taktiken und Überzeugungsarbeit anwenden.[31] So wurde etwa 1969 in Westberlin das sogenannte ‚Diskussionskommando‘ (Disk-Kdo) eingeführt, das „per Diskussionseinsätzen unter den Demonstranten brenzlige Situationen entschärfen“ sollte.[32].

Andererseits können die Sicherheitsbehörden aber auch Recht und Ordnung durch Anwendung von härteren Taktiken durchsetzen und Gewalt anwenden. Hierdurch werden Radikalisierungsprozesse tendenziell begünstig.[33] Als Beispiel nennt della Porta die Radikalisierung der Aktionsformen während der 68er-Studentenbewegung infolge der gewaltsamen Konfrontation mit der Polizei (der Staatsgewalt) und anderen Bewegungen (z.B. Neofaschisten): In Reaktion auf die gewaltsame Räumung von Universitätsgebäuden durch die Polizei wandte sich die vormals überwiegend gewaltfreie Studentenbewegung zunehmend auch gewalttätigen Protestformen zu. Zunächst spontane, reaktive Gewaltaktionen intensivierten und transformierten sich rasch, weil Akteure beider Seiten mit diversen innovativen Taktiken experimentierten.[34]

Der Wettbewerb mit der staatlichen Gewalt kann nach McCauley und Moskalenko auch sogenannte Verdichtungen erzeugen (a dynamic of condensation):[35] Werden die vom Staat eingesetzten repressiven Maßnahmen gegen einzelne Personen oder Personengruppen als brutal, ungerecht, undifferenziert wahrgenommen, kann es zu einer emotionalen und politischen Solidarisierung mit den Opfern kommen. Aktivist*innen, die während der Auseinandersetzungen mit der staatlichen Gewalt bzw. im Gefängnis ums Leben gekommen sind, werden als Märtyrer gepriesen. Ihr Tod bzw. ihre Inhaftierung können nicht ungesühnt bleiben. Darauf wird oft mit verstärkter Gewalt reagiert.[36] Als Beispiel eines Märtyrertodes aus der Sicht der Aktivisten der 68er-Studentenbewegung gilt der tragische Fall von Benno Ohnesorg.[37]

b)    Mesoebene

Auf dieser Ebene stehen interne Bewegungsinteraktionen, die zur Radikalisierung führen (können), im Fokus der Analyse. Soziale Bewegungen werden als „networks of individuals and organizations that share certain goals and collaborate in collective protest but also compete with each other for power and resources”[38] definiert. Intern sind diese Netzwerke meist heterogen: Einzelne Subgruppen verfolgen zwar dieselben oder ähnliche Ziele, können sich aber erheblich in ihren Ideologien und Aktionsformen unterscheiden.

Innerhalb einer sozialen Bewegung können Interaktionen zwischen konkurrierenden Gruppen Eskalationsprozessen forcieren: Man konkurriert um materielle (z.B. Geld, Arbeit u.a.) sowie immaterielle (z.B. Vertrauen, Freundschaft u.a.) Ressourcen.[39] Dieser Organisationswettbewerb kann einzelne Gruppen dazu bewegen, radikalere Positionen einzunehmen und radikalere Aktionsformen anzuwenden, „um weiterhin gegenüber anderen Gruppen und Organisation der Bewegung ‚konkurrenzfähig‘ zu bleiben“.[40] Dabei geht della Porta davon aus, dass ressourcenschwache Gruppen und Organisationen zur Kompensation ihrer Schwäche zu radikalen Aktionsformen neigen.[41] Ähnlich verhalten sich die Organisationen, die ähnliche Ziele verfolgen und sich an dieselben Zielgruppen wenden: Um sich voneinander abzusetzen, können sie taktisch zu radikalen Aktionsformen greifen.[42]

Bewegungsforscher*innen gehen dabei von einer Verbindung zwischen Radikalisierung und Protestzyklen aus: Am Anfang eines Protestzyklus werden gewaltsame Aktionsformen eher gelegentlich und defensiv angewandt. Mit der Zeit werden sie organisierter und ritualisierter eingesetzt. Gegen Ende eines Protestzyklus, wenn die Anzahl der Proteste zurückgeht, entwickeln sich klandestine Formen der Gewalt.[43]

c)    Mikroebene

Auf der Mikroebene wird der Frage nachgegangen, warum sich Individuen radikalen Organisationen anschließen. Psychopathologische oder sozioökonomische Erklärungen von Radikalisierungsprozessen auf der Mikroebene sind nach della Porta aber empirisch nicht haltbar.[44] Sie weist dagegen für die Mikroebene auf die besondere Rolle von sozialen Netzwerken (kollektive und soziale Bindungen der Individuen), kollektiver Identität, dem Deutungsrahmen kollektiver Aktion (Rechtfertigung der Protestaktionen) und verschiedenen Anreizen (materiell, emotional, psychisch, ethisch) hin.[45]

In einer relationalen Erklärung, die Radikalisierung als Folge von Interaktionen von verschiedenen Akteuren sieht, wird die Radikalisierung auf drei miteinander verknüpften Ebenen untersucht: Auf der Mikroebene rücken die vorherrschenden Motivationen für die individuelle Entscheidungsfindung in den Fokus der Aufmerksamkeit. Auf der Mesoebene werden die wichtigsten Netzwerke für die Rekrutierung von Mitgliedern unter die Lupe genommen. Des Weiteren spielt der von den Individuen wahrgenommenen Kontext eine wichtige Rolle für die Erforschung der Radikalisierung auf der Makroebene.[46] Orientiert an diesen Ebenen entwickelte della Porta zusammen mit Bosi ein Modell verschiedener Radikalisierungspfade (siehe Tabelle 1), welche anhand von Entwicklungen in den Roten Brigaden in Italien und der Irisch-Republikanischen Armee erarbeitet wurden.

PfadVorherrschende Motivation (Mikroebene)Wichtige Netzwerke zur Rekrutierung von Mitgliedern (Mesoebene)Wahrnehmung des gesellschaftlichen Kontextes (Makroebene)
ideologischIdeologisch, IdentitätFamilie und lokale TraditionenPotentiell revolutionäre Situation
InstrumentellStreben nach VeränderungenPolitische GruppenGeschlossene Möglichkeiten
solidarischEhrfahrungskognitionGruppe von Gleichaltrigen (Peers)Eskalation des politischen Konflikts
Tabelle 1: Pfade der Radikalisierung (Della Porta 2018: 469), übersetzt von N.H.

Erstens, der ideologische Pfad verläuft über die politische und ideologische Sozialisation in der Familie, auch lokale Traditionen sind in diesem Fall sehr wichtig. Die familiären und lokalen Traditionen erleichtern den Individuen die Entscheidung, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen, denn die Rebellion wird als Verpflichtung verstanden.[47] So zum Beispiel wurde die ideologische Radikalisierung der RAF-Terroristin Ulrike M. Meinhof durch unmittelbare (familiäre) Kontakte geprägt. Die Ziehmutter als auch der Ehemann von Meinhoff prägten das ideologische Weltbild ihrer Tochter bzw. Frau.[48] Ebenso kann eine potentiell revolutionäre Situation den Entschluss begünstigen. Zweitens, der instrumentelle Radikalisierungspfad wird durch das Streben nach Veränderungen, und zwar nach Verbesserung der Situation geprägt. Die Radikalisierung findet in politischen Gruppen statt. Dabei ist der Glaube, gewaltfreie Formen des politischen Protests seien sinnlos, maßgebend. Ein anschauliches Beispiel für den instrumentellen Pfad stellt das Radikalisierungsnarrativ der Hauptprotagonistin Luisa im Film „Und morgen die ganze Welt“ dar.[49] Ein dritter Radikalisierungspfad wird durch die Solidarisierung mit Betroffenen unter intensiven Emotionen (z.B. Wut, Rache) gekennzeichnet. Die Rekrutierungsprozesse finden in den Gruppen der Gleichaltrigen statt und verlaufen schneller als auf ideologischen und instrumentellen Pfaden.[50] Die gemeinsamen Erfahrungen in Protestaktionen oder Konfliktsituationen fördern Solidaritätsgefühle, es entstehen die Eindrücke, Teil eines historisch bedeutsamen Ereignisses zu sein, man fängt an, sich mit einem Kollektiv zu identifizieren. Die erzeugten Solidaritätsgefühle können „zu einer übersteigenden Sichtweise der eigenen Macht und der objektiven Möglichkeiten und somit zu einer verzerrten Realitätseinschätzung“[51] führen. Für diesen Radikalisierungspfad ist nicht nur die verstärkte Solidarität innerhalb der eigenen radikalen Gruppe, sondern auch die parallele Entwicklung „eine[s] stärkeren Hass[es] auf die Gegner – die Anhänger der rechten Gruppen und auch die Polizei –, die in den Augen der Militanten zunehmend entmenschlicht [werden]“, [52] charakteristisch.

Abschließende Anmerkungen

In der Radikalisierungsforschung wird ein enger Begriff der Radikalisierung präferiert. Das enge Begriffsverständnis bringt sowohl seine Vor- als auch Nachteile mit sich: Einerseits lässt es sich hiermit einfacher und zuverlässiger eine Grenze zwischen radikalen und nicht-radikalen Akteuren und Handlungen ziehen. Die Grenze wird durch den Übergang zu politischer Gewalt markiert. Andererseits werden durch das enge Begriffsverständnis andere Formen der Radikalisierung entweder außer Acht gelassen[53] oder bloß als Vorstufen für die Radikalisierung (Radikalisierung ohne Gewalt) betrachtet. Die Kritiker*innen eines engen Radikalisierungsbegriffes werfen dessen Befürworter*innen vor, das Phänomen der Radikalisierung auf einen Zustandsbegriff zu minimieren und betonen einen prozessualen Charakter des Phänomens.[54] Darüber hinaus entstehe der falsche Eindruck, dass die Radikalisierung mit der Gewaltanwendung beginne, die weiteren, im Vorfeld der Gewaltanwendung laufenden Prozesse würden außer Acht gelassen.[55] Anders als der weite Radikalisierungsbegriff lässt sich ein enges Verständnis jedoch einfacher operationalisieren. Neben der Streitfrage, was man unter Radikalisierung versteht und ob Gewalt (nicht) als eine notwendige Voraussetzung für die Radikalisierung betrachtet wird, gibt es in der Radikalisierungsforschung noch eine Reihe Fragen, die bis jetzt nicht (ausreichend) erforscht sind. Beispielsweise bleibt laut della Porta und LaFree die historische Perspektive des Phänomens nicht zufriedenstellend beleuchtet.[56] Abay Gaspar et al. schreiben: „die Frage, ob und unter welchen Bedingungen das Internet den Übergang in die Gewalt begünstigt, lässt sich noch nicht klar beantworten“.[57]

Abschließend lässt sich konstatieren, dass die Radikalisierung als ein Prozess der Interdependenz von wechselwirkenden, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Faktoren verstanden werden kann. Dieser Prozess kann zur Entstehung von verschiedenen Formen der Radikalisierung führen. Die gegenwärtige Forschung am Phänomen sowie die Arbeit an dem Begriff selbst sind nicht abgeschlossen. Die Fragen bleiben offen und die Ergebnisse der bereits vorliegenden Arbeiten sollen durch weitere Untersuchungen erweitert und revidiert werden.

Autorin

Natalia Hanauska


[1] Vgl. Stefan Malthaner, Radicalization. The Evolution of an Analytical Paradigm, in: European Journal of Sociology, 58/3, 2017, pp. 369-401, hier p. 369; Donatella della Porta, Radicalization: A Relational Perspective, in: Annual Review of Political Science, 21, 2018, pp. 461-474, hier p. 462; Peter Neumann a. Scott Kleinmann, How Rigorous Is Radicalization Research? In: Democracy and Security, 9, 2013, pp.360-382.

[2] Im Fokus der Aufmerksamkeit der Terrorismusforschung steht die Frage danach, warum sich einige Menschen für die Gewaltanwendung entscheiden und die anderen nicht. Vgl. Lorenzo Bosi a. Stefan Malthaner, Political violence, in: Donatella della Porta a. Mario Diani (Ed.), The Oxford Handbook of Social Movements, Oxford 2015, pp. 439-451, hier p. 443. Sowie: Warum radikalisieren sich „normale“, politisch „unauffällige“ Menschen überhaupt? Vgl. Malthaner (2017), p. 369. In Anlehnung an Horgan scheibt Borum, dass es in der Terrorismusforschung ein Umdenken stattfinden soll. Man sollte nicht mehr der Frage nach „Warum“, sondern der Frage nach „Wie“ nachgehen. Vgl. Randy Borum, Rethinking Radicalization, in: Journal of Strategic Security 4, 2011/4, pp. 1-6, hier p.2.

[3] Fokussiert sich die Terrorismusforschung auf die psychologischen Prozesse, um das gewalttätige Handeln zu verstehen und Strategien zur Verhinderung von terroristischen Anschlägen zu entwickeln, so steht in der Bewegungsforschung primär die Frage nach „politische[n] Gelegenheitsstrukturen und Prozesse[n], die die Radikalisierung sozialer Bewegungen befördern“. Martin Wilk, Fragile kollektive Identitäten: Wie sich soziale Bewegungen radikalisieren, Bielefeld, 2020, S. 22. Della Porta und Bosi heben in ihrem Beitrag hervor, dass die Kernfragen der Radikalisierungsforschung sind: Wie und wann der Wechsel von gewaltfreien zu gewalttätigen Aktionsformen vollzieht. Vgl. Lorenzo Bosi a. Donatella della Porta, Radicalization, in: David A. Snow et al. (ed.), The Wiley Blackwell encyclopedia of social and political movements, vol. 4, Wiley 2023, pp. 1756-1760, hier p. 1756.

[4] Bosi a. Malthaner (2015), p. 443.

[5] Neumann a. Kleinmann (2013), p. 360.

[6] Vgl. Neumann, Peter R., The trouble with radicalization, in: International Affairs 89/4, 2013, pp. 873-893.

[7] „radikal“, in: Pfeifer, Wolfgang et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, unter: https://www.dwds.de/wb/etymwb/radikal, [eingesehen am 21.06.2023].

[8] Vgl. Hande Abay Gaspar et al., Was ist Radikalisierung? Präzisierungen eines umstrittenen Begriffs, in: PRIF Report 5/2018, S. 3; Wilk (2020), S. 22.

[9] Neumann (2013), p. 876.

[10] Vgl. Wilk (2020), S. 21.

[11] Politische Gewalt wird als „Spektrum kollektiver Aktionen, das große physische Kraft einschließt und einem Gegner Schaden zufügt, um politische Ziele zu erzwingen“ definiert. Donatella della Porta, Gewalt und die Neue Linke, in: Wilhelm Heitmeyer u. John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 479-500, hier S. 479. Eine ähnliche Definition der politischen Gewalt kann man bei Bosi und Malthaner finden: „a heterogeneous repertoire of actions oriented at inflicting physical, psychological, and symbolic damage to individuals and/or property with the intention of influencing various audiences for affecting or resisting political, social, and/or cultural change”. Bosi, a. Malthaner (2015), p. 439.

[12] Abay Gaspar et al. (2018), S. 8.

[13] Ebd. S.8.

[14] Vgl. Andreas Önnerfors a. Kristian Steiner, Introduction, in: Kristian Steiner a. Andreas Önnerfors (Ed.), Expressions of Radicalization. Global Politics, Processes and Practices, Cham 2018, pp. 1-38, hier pp. 2-3.

[15] Vgl. Bosi a. della Porta (2023), p. 1756; siehe auch: della Porta (2018), p. 462; Donatalla della Porta a. Gary LaFree, Guest Editorial: Processes of Radicalization and De-Radicalization, in: International Journal of Conflict and Violence Vol 6 (1) 2012, pp. 4-10, hier: p. 5.

[16] Vgl. Roland Eckert, Die Dynamik der Radikalisierung. Über Konfliktregulierung, Demokratie und die Logik der Gewalt, Weinheim u. Basel 2012; Abay Gaspar et al. (2018), S. 13ff.; Jamie Bartlett a. Carl Miller, The Edge of Violence: Towards Telling the Difference Between Violent and Non-Violent Radicalization, in: Terrorism and Political Violence, 24, 2012, pp. 1-21.

[17] Eckert (2012), S. 7.

[18] Vgl. Bartlett a. Miller (2012), p. 2.

[19] Abay Gaspar et al. (2018), S. 5. Kursiv im Original.

[20] Vgl. Malthaner (2017), p. 372.

[21] Neumann (2013), S. 875.

[22] Peter Neumann, Radikalisierung, Deradikalisierung & Extremismus, vom 09.09.2015, unter: https://www.bpb.de/themen/infodienst/211827/radikalisierung-deradikalisierung-extremismus/ [eingesehen am 12.06.2023]; Neumann (2013), p. 874.

[23] Clark McCauley a. Sophia Moskalenko, Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism, in: Terrorism and Political Violence, 20, 2008, pp. 415-433, hier p.419f.

[24] Vgl. Neumann (2015).

[25] Vgl. Malthaner (2017), p. 372.

[26] Vgl. Önnerfors a. Steiner (2018), p. 8.

[27] Vgl. Abay Gaspar et al. (2018), S. 9; Neumann (2013), p. 874; Neumann (2015).

[28] Vgl. Della Porta (2018), p. 463.

[29] Ebd. p. 464.

[30] Siehe zur Protesttaktik ziviler Ungehorsam in der radikalen Linken Alexander Deycke, Postautonomie – organisatorische und strategische Entwicklungen in der undogmatischen radikalen Linken seit den1990er Jahren, in: Alexander Deycke et al. (Hg.), Von der KPD zu den Postautonomen. Orientierungen im Feld der radikalen Linken, Göttingen 2021, S. 383-404.

[31] Ebd. p. 464.

[32] Von „Leberwursttaktik“ zum Straßenkampf, in: taz vom 22.2.1989, unter: https://taz.de/Von-Leberwursttaktik-zum-Strassenkampf/!1821257/ [eingesehen am 26.06.2023]. Als eines der bekanntesten Beispiele für die deeskalierende Taktik der Sicherheitsbehörden nennt Behrendes, Leitender Polizeidirektor a.D., Köln, den Sternmarsch auf Bonn am 11. Mai 1968: Damals setzte der Einsatzleiter eine deeskalierende Taktik, und zwar auf die Kooperation mit Studierenden ein. Vgl. Udo Behrendes, Polizeiliche Strategien im Umgang mit linker Militanz bei Demonstrationen. Zwischen Eskalation und Deeskalation, unter: https://www.bpb.de/mediathek/video/302086/polizeiliche-strategien-im-umgang-mit-linker-militanz-bei-demonstrationen/ [eingesehen am 26.06.2023].

[33] Vgl. Della Porta (2018), p. 464.

[34] Vgl. Della Porta (2002), S. 486ff. Neben diesen Fällen sind auch andere Bespiele einer eskalierenden Polizeiarbeit bekannt. Vgl. Klaus Weinhauer, Staatsgewalt, Massen, Männlichkeit: Polizeieinsätze gegen Jugend- und Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, in: Alf Lüdtke et al. (Hg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011, S. 301-324,

[35] Hervorhebung im Original, Vgl. McCauley a. Moskalenko (2008), p.425.

[36] Vgl. Ebd. p. 425.

[37] Vgl. Della Porta (2002), S. 489.

[38] Diani 1992, zit. nach Della Porta (2018), p. 465.

[39] Vgl. Della Porta (2002), S. 493.

[40] Wilk (2020), S. 50.

[41] Vgl. Ebd. S. 50.

[42] Vgl. Della Porta (2018), p. 466.

[43] Vgl. Ebd. p. 466.

[44] Vgl. Ebd. p. 467.

[45] Vgl. Della Porta (2002), p. 488.

[46] Vgl. Della Porta (2018), p. 469.

[47] Vgl. Ebd. S. 469.

[48] Vgl. Eckhard Jesse, Radikalisierung: Das Beispiel von Horst Mahler und Ulrike M. Meinhof, in: Ralf Altenhof et al. (Hg.), Politischer Extremismus im Vergleich. Beiträge zur Politischen Bildung, Berlin 2017, S. 237-262.

[49] Luisa kommt mit der wachsenden Popularität der fiktiven rechtspopulistischen Parteien sowie mit dem rechtsradikalen Druck im Land nicht zurecht. Sie will dies ändern und schließt sich einer Antifa-Gruppe an. Schnell versteht sie, dass der Kampf gegen Neonazis ohne Gewalt nichts bringt und spaltet sich von dem nichtgewaltbereiten Teil der Antifa ab, um mit ein paar gewaltbereiten Freunden gegen Neonazis vorzugehen. Vgl. Unter: https://undmorgendieganzewelt-film.de/ [eingesehen am 18.08.2023].

[50] Vgl. Della Porta (2018), S. 469.

[51] Eckert (2012), S. 104.

[52] Della Porta (2002), S. 491.

[53] Abay Gaspar et al. nennen neben den beiden in dem vorliegenden Betrag erwähnten Radikalisierungsformen (Radikalisierung in die Gewalt und Radikalisierung ohne Gewalt) noch eine dritte Radikalisierungsform u. zw. Radikalisierung in der Gewalt. Diese Form wird nach dem Autorenkollektiv beim engen Radikalisierungsbegriff komplett ausgeblendet. Vgl. Abay Gaspar et al. (2018), S. 5.

[54] Vgl. Abay Gaspar et al. (2018), S. 6.

[55] Vgl. Ebd. S. 16.

[56] Vgl. della Porta a. LaFree (2012), p. 5.

[57] Abay Gaspar et al. (2018), S. 10.