Die radikale Linke und der 1. Mai

Zusammenfassung

  • Der 1. Mai gilt als das „symbolisch bedeutendste wiederkehrende Ereignis autonomer Militanz“.
  • Die linksradikalen Aktivitäten am 1. Mai nehmen Bezug auf Traditionen des 1. Mai als „Fest- und Kampftag“ der Arbeiterbewegung und eine mythisierende Erinnerung an Ausschreitungen im Berliner Stadtteil Kreuzberg im Jahr 1987.
  • Die linksradikalen Demonstrationen zum 1. Mai in Berlin lassen sich als politisches Ritual deuten, das unter anderem die soziale Funktion der Herstellung von Gruppenidentität erfüllt.

Wohl nicht zu Unrecht wurde der 1. Mai als das „symbolisch bedeutendste wiederkehrende Ereignis autonomer Militanz“[1] in Deutschland bezeichnet. Seit rund drei Dekaden sieht man Bilder von zerborstenen Fensterscheiben, brennenden Autos oder Mülltonnen, vermummten Steinewerfern, Polizisten in voller Schutzmontur und eingesetzte Wasserwerfer in den Nachrichtensendungen und Pressepublikationen am Abend oder den Folgetagen des 1. Mai. Schon die Demonstrationsvorbereitungen auf der einen und die Einsatzkonzepte auf der anderen Seite ziehen in den Vorwochen mediale Aufmerksamkeit auf sich.

Die linksradikalen Protestrituale der Gegenwart erklären sich nicht allein durch Referenzen auf eine bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Arbeiterbewegung, die den 1. Mai zu ihrem zentralen Fest- und Kampftag auserkoren hatte. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr die Mythisierung von Ausschreitungen im West-Berliner Stadtteil Kreuzberg des Jahres 1987.

Der 1. Mai als Kampf- und Festtag der Arbeiterbewegung – Die Anfänge im Kaiserreich

Will man die Bedeutung des 1. Mai für die radikale Linke nachvollziehen, ist zunächst ein Blick in die historische Genese des „Tages der Arbeit“ als Ritual der politischen Linken hilfreich. Im Jahr 1889 verabschiedeten die in der französischen Hauptstadt tagenden Delegierten der Zweiten Internationale eine Resolution, welche die Arbeiter aufforderte, „in allen Ländern und in allen Städten“ eine „große internationale Manifestation“ durchzuführen, um „an die Öffentlichen Gewalten die Forderung zu richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des Kongresses von Paris zur Ausführung zu bringen“. Weiter hieß es: „Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebung in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, ins Werk zu setzen.“[2] Als Datum der „großen internationalen Manifestation“ wurde der 1. Mai festgelegt. An diesem Tag hatten in den USA vier Jahre zuvor Massenstreiks für den Achtstundentag begonnen, in deren Verlauf es in Chicago zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Polizei kam. Ein unbekannter Täter zündete am 4. Mai auf dem Chicagoer Haymarket, wo sich Arbeiter zu einer Demonstration versammelt hatten, eine Bombe, die zwölf Menschen tötete. Ohne dass ihnen eine Beteiligung an dem Attentat nachgewiesen wurde, verurteilte die amerikanische Justiz daraufhin sieben Anarchisten zum Tode und ließ sie hinrichten. Ein Märtyrerstatus in der Arbeiterbewegung war ihnen damit sicher.

Die deutschen Behörden aber auch die Arbeitgeberschaft blickten dem 01.05.1890 beunruhigt entgegen, man rechnete für den Tag mit Streiks und Ausschreitungen. Doch die Sozialdemokratie, deren Führung den fulminanten Wahlerfolg des Frühjahrs und den gerade erst eingetretenen Fortfall ihres Organisationsverbots nicht gefährden wollte, trat erfolgreich für eine besonnene und disziplinierte Umsetzung der Resolution durch ihre Anhängerschaft ein. In der bürgerlich-liberalen Frankfurter Zeitung war über den ersten 1. Mai in Deutschland zu lesen:

„Eine derbe, aber verdiente Lektion haben die Arbeiter aller Länder durch die musterhafte Art und Weise, in der sie die internationale Maifeier begingen, jenen Heulmeiern erteilt, die vor dem 1. Mai aus leicht verständlichen Nebenabsichten nicht schwarz genug prophezeien konnten. Die Demonstration, die in diesem Umfang ein weltgeschichtliches Novum war, hat alle Unkenrufe Lügen gestraft. Nicht Gewaltwort der Unternehmer, sondern die Überlegung der frei organisierten Arbeiter hat dahin geführt, daß die Kulturländer keine größeren Exzesse zu beklagen haben. Man muss sich nur erinnern, was gewisse Blätter vor dem 1. Mai alles aufboten, um der friedlich geplanten Arbeiterkundgebung für einen internationalen Maximalarbeitstag den Stempel der Rebellion mit Gewalt aufzudrücken.“[3]

Diese Maifeier blieb keine Episode, sondern verdrängte in den Folgejahren allmählich andere Fest- und Gedenktage der Arbeiterbewegung, wie etwa den Todestag Ferdinand Lassalles (31. August), sodass der 1. Mai alsbald zum wichtigsten Termin im Festtagskalender der Arbeiterbewegung in Deutschland wie international avancierte. Um den Konflikt mit Staatsmacht und Arbeitgeberschaft zu vermeiden, wurden die Maifeiern vielfach in den Abendstunden oder aber am Sonntag nach dem 1. Mai abgehalten. Von Beginn an vereinten die Maifeiern Elemente politischer Kundgebungen mit geselligem Beisammensein, politische Kampfreden und Demonstrationszüge mit Musik, Theater und Wanderausflügen ins Grüne. Zum ersten 1. Mai wurde Werbe- und Informationsmaterial, ab dem darauffolgenden Jahr 1891 dann eine Maizeitschrift produziert. Es bildeten sich, durchaus mit regionalen Unterschieden, Festpraktiken heraus, die zuweilen an älteres, vor allem ländliches Brauchtum (1. Mai = Beginn der bäuerlichen Sommerarbeiten) anknüpften. So wurde dieser Tag zu einem Ritual, mit dem die Arbeiterbewegung sich ihrer selbst, ihrer eigenen Kampfeskraft versicherte und Gegenkultur praktizierte. Die auf den Kundgebungen verkündeten Parolen und Forderungen blieben keineswegs starr der Programmatik verhaftet, welche die Zweite Internationale vorgegeben hatte. Vielmehr spiegelten sich (wie auch heute noch) in den Veranstaltungen immer aktuelle Debatten und Konflikte in Partei und Gewerkschaften, die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Rezeption in der Arbeiterbewegung.[4]

Unangefochten blieb indes der bedächtige Kurs der SPD-Parteiführung nicht. Ihm standen Forderungen gegenüber, am 1. Mai die Arbeit niederzulegen und mit energischen Massendemonstrationen den Forderungen der Arbeiterbewegung Nachdruck zu verleihen. Arbeiter, die diesen Weg gingen, hatten mit harschen Strafaktionen der Arbeitgeberseite zu rechnen. Als sich beispielsweise die Hamburger Gewerkschaften 1890 für eine derart konfrontative Mai-Politik entschieden, reagierten die Arbeitgeber mit Aussperrungen und schwarzen Listen für Streikende, wodurch die zuvor gut gefüllten Streikkassen der Hamburger Gewerkschaften vollständig aufgezehrt wurden. Der 1. Mai war ein Dauerthema auf den jährlichen Parteitagen, auf denen die Leitung der Partei für Zurückhaltung eintrat, während aus den Reihen der Basis Forderungen nach umfangreicheren Arbeitsniederlegungen und kämpferischen Demonstrationen geäußert wurden.

Gespaltene Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches konnte die Sozialdemokratie ihre Forderung nach einem reichsweiten staatlichen Feiertag in der jungen Republik mit Ausnahme des Jahres 1919 nicht durchsetzen. Auch die Kernforderung der Maifeiern, der Achtstundentag, konnte in der revolutionären Umbruchsphase nur vorübergehend erstritten werden. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten und Kommunisten brachte schließlich auch getrennte Maifeiern mit sich, deren Stoßrichtungen – hier reformistisch und pro-republikanisch, dort revolutionär – sich merklich unterschieden.[5] Trauriger Höhepunkt der Konflikte zwischen den Lagern innerhalb der Arbeiterbewegung war der sogenannte Blutmai des Jahres 1929 – ein Ereignis, das nicht nur das Schisma der Linken vertiefte, sondern auch das Vertrauen der Arbeiterschaft in die Republik beschädigte. Als sich kommunistische Demonstranten nicht an das in Erwartung von Ausschreitungen erlassene Demonstrationsverbot des sozialdemokratischen Berliner Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel hielten, eröffnete die preußische Polizei das Feuer. Der Einsatz von Schusswaffen einschließlich Panzerwagen und Maschinengewehren forderte in den Berliner Stadtteilen Wedding und Neukölln 33 Tote und 198 Verletzte.[6]

Der Festtag der Sozialisten und Kommunisten wurden schließlich durch den nationalsozialistischen Staat vereinnahmt, der den 1. Mai ab 1933 zu einem staatlichen Feiertag erklärte. Am Folgetag des ersten, mit Massenaufmärschen zelebrierten nationalsozialistischen „Festtags der nationalen Arbeit“ wurden die Gewerkschaftshäuser gestürmt und nach dem parteipolitischen auch der gewerkschaftliche Teil der Arbeiterbewegung zerschlagen.

Frühe Bundesrepublik

In der Bundesrepublik blieb der 1. Mai gesetzlicher Feiertag, die Organisation der wichtigsten Großkundgebungen übernahm ab 1950 der im Vorjahr als Einheitsgewerkschaft gegründete Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Für die Gewerkschaften der Bundesrepublik war und ist der 1. Mai der wichtigste Tag, „um in der Öffentlichkeit ihre Auffassungen zur sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Lage, über Erreichtes, vor allem aber über ihre weiteren Forderungen an Unternehmer, politische Parteien und Regierungen darzustellen.“[7] Dabei reicht das Spektrum der am Zeitgeschehen orientierten Themen immer auch über die Welt der Arbeit hinaus.[8] So zählten etwa Sozialstaatlichkeit, Friedenspolitik und Rüstungsfragen zu den wiederkehrenden Themen der jährlich vom DGB formulierten Motti der Maifeierlichkeiten.[9]

Eine Sonderstellung kam den Maifeierlichkeiten in West-Berlin zu. In den 1950er und 1960er Jahren strömten Hunderttausende zu den Großkundgebungen am 1. Mai, um sich im Systemkonflikt zu positionieren, vor Deutschland und der Welt den eigenen Freiheitswillen zu bekunden und Abgrenzung von der DDR zu praktizieren. Auf der anderen Seite der Mauer ließ sich die SED-Führung zeitgleich in unmittelbarer Nähe auf ihren Tribünen von vorbeiziehenden Menschenkolonnen aus Arbeiterschaft und Militär feiern.

Im „roten Jahrzehnt“

Bis Ende der 1960er Jahre, zumal nach dem Verbot der KPD, fiel den Gewerkschaften quasi das Monopol für große Maidemonstrationen zu. Gelegentliche Aktionen von Kommunisten, die die Veranstaltungen störten oder für propagandistische Zwecke zu nutzen versuchten, wurden polizeilich unterbunden. Mit der Herausbildung der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erwuchs dem Gewerkschaftsmonopol allerdings ernstzunehmendere Konkurrenz von links. Erschien zunächst noch der Schulterschluss zwischen APO und Gewerkschaften möglich – immerhin teilte man beispielsweise in puncto Notstandsgesetzgebung eine Linie –, sorgte die radikale Kritik der APO auch an den Gewerkschaften als Teil des kapitalistischen Systems sowie die militante Protestpraxis für Distanz. Aus APO-Kreisen wurden eigene Demonstrationen organisiert, die bereits 1968 in manchen Städten zehntausende Teilnehmer anzogen. Veranstaltungen der DGB-Gewerkschaften wurden hingegen vielerorts durch Protestaktionen gestört.[10]

Dass sich die revolutionären APO-Energien in den Jahren nach 1968 ideologisch ausdifferenzierten und sektenartige Organisationsstrukturen gebildet hatten, ließ die Bedeutung des Mairituals für die radikale Linke nicht abbrechen. In Berlin dominierten kommunistische Splitterparteien das Geschehen am 1. Mai in einigen Jahren gar derart, dass die Gewerkschaftsseite einige Jahre auf reine Saalveranstaltungen auswich.[11] Mit Flugblättern und Sonderausgaben von Zeitungen und Zeitschriften, in denen gegen „Gewerkschaftsbonzen“ gewettert und für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen im „Trikont“ geworben wurde, stimmten die linkradikalen Zirkel und Strömungen im Vorfeld auf den 1. Mai ein.[12] Eine interne Erhebung des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) etwa wusste Auskunft zu geben über ca. 35.000 Teilnehmer der Demonstrationen und Feierlichkeiten am 1. Mai 1975. Gerade die sogenannten K-Gruppen verstanden den 1. Mai als höchsten Feier- und Kampftag der Arbeiterklasse und suchten entsprechend, diese für Demonstrationen und Veranstaltungen zu mobilisieren. Der Rekurs auf die Mai-Demonstrationen der KPD in der Weimarer Republik war dabei offensichtlich, man sang gemeinsam Arbeiterlieder, schmetterte klassische KPD-Parolen und trug deren typische Symbole und Insignien (rote Fahnen, Hammer und Sichel usw.) zur Schau. Zusammen gedachte man auch wichtigen historischen Marksteinen und Zäsuren, wobei der Blutmai 1929 einen herausragenden historischen Referenzpunkt darstellte.[13]

Im „roten Jahrzehnt“[14] bildete die radikale Linke indes keine geschlossene Mai-Phalanx. Mehrere linksradikale Demonstrationen am Tag der Arbeit in derselben Stadt waren nicht ungewöhnlich, doch raufte man sich zuweilen auch zusammen und einigte sich in quälend langen Sitzungen der Aktionsausschüsse und Maikomitees auf gemeinsame Veranstaltungen. Parallel blieb die Teilnahme und das „Flaggezeigen“ auf den Gewerkschaftsdemonstrationen und -kundgebungen vielerorts eine optionale Maipraxis. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre ging die Zahl eigenständiger linksradikaler Maidemonstrationen stark zurück.

Der autonome 1. Mai in Berlin

Mythos 1. Mai 1987

Der Westberliner Bezirk Kreuzberg wurde zu Beginn der 1980er Jahre zu einer Hochburg der Autonomen, die sich 1980/81 wiederholt straßenschlachtartige Auseinandersetzungen um besetzte Häuser mit der Berliner Polizei lieferten. Kreuzberg war in den 1980er Jahren geprägt von hoher Arbeitslosigkeit, daraus resultierender Armut, einem hohen migrantischen Bevölkerungsanteil und  maroder Bausubstanz, bot aber gleichzeitig viel Raum für alternative Projekte und Lebensentwürfe. Vor dem Hintergrund der von linksradikalen Gruppierungen und einem Alternativmilieu abgelehnten 750-Jahr-Feier Berlins, der Proteste gegen eine staatliche Volkszählung und des konfrontativen Vorgehens der Polizei während eines Straßenfestes auf dem Lausitzer Platz in Kreuzberg[15], eskalierte die Situation dort straßenschlachtartig am 1. Mai 1987. Die Polizei musste sich für einige Stunden vollständig aus Teilen Kreuzbergs zurückziehen und infolgedessen kam es unter anderem zu Plünderungen von Geschäften.

In der Selbstwahrnehmung der autonomen Szene übertraf dieser 1. Mai 1987 alle „massenmilitanten“ Ereignisse der Häuserkampfzeit.[16] Wennschon das Ausmaß der Eskalation aus autonomer Perspektive tatsächlich „überraschend“[17] gewesen sein dürfte, waren die Krawalle grundsätzlich wohl keineswegs derart spontan und reaktiv, wie manche Bewegungschronisten suggerieren. So erinnert sich eine Augenzeugin folgendermaßen an den 1. Mai 1987 in Kreuzberg:

„Sibylle Albrecht […] erinnert sich, wie nachmittags die Menschentrauben an den Ständen [des Straßenfestes] „immer schwarzer“ wurden – die Uniformen der Autonomen als Vorboten des Ausnahmezustands. Die Provokateure stießen einen Polizei-Bulli um, bald flogen Steine auf einen Einsatzwagen in der Manteuffelstraße, einen Häuserblock entfernt.“[18]

Im Vorfeld fanden offenbar Vorbereitungen für Barrikadenbau und harte Konfrontationen mit der Polizei statt.[19] Zum Gesamtbild der Ereignisse zählt allerdings auch, dass sich szeneexterne Akteure an den Ausschreitungen beteiligten. Eine gewichtige Rolle bei der Eskalation wird beispielsweise Jugendlichen aus migrantischen Milieus zugeschrieben.[20] Für das Feuer in einem Supermarkt, der vollständig zerstört wurde, zeichneten zudem weniger randalierende Autonome als ein mehr oder minder zufällig involvierter Pyromane verantwortlich.[21]

Im Nachgang wurde in Szenezeitschriften – wie nach vergleichbaren Ereignissen nicht unüblich – das Für und Wider der eigenen Gewaltpraxis diskutiert. Von der enormen und sinnlosen, im „eigenen“ Kiez ausgelebten Zerstörungswut dieses Tages distanzierten sich einige Autonome im Nachgang, besonders Angriffe auf „kleine Läden“ stießen auf Kritik.[22] Viele empfanden dieses Ereignis ungeachtet dessen jedoch als Zeichen eines größeren Aufbruchs und weitergehender Mobilisierung und verklärten die Ereignisse als sozialrevolutionären Aufstand.[23] Dem 1. Mai des darauffolgenden Jahres gingen deshalb planvollere Absprachen und Vernetzungen in der Szene voraus, mit denen an die zunehmend mythisierten Ereignisse des Jahres 1987 angeknüpft werden sollte. Er wurde – in Konkurrenz und Abgrenzung zur DGB-Veranstaltung – als „Revolutionärer 1. Mai“ deklariert. Die erste autonome Demonstration zum 1. Mai zog im Jahr 1988 laut szeneinternen Einschätzungen rund 6.000-8.000 Teilnehmer an[24] und brachte (erwartungsgemäß) gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Autonomen und Polizei mit sich.

Vom Mythos zum Ritual

Es verfestigten sich in den Folgejahren die Elemente eines politischen Rituals, im Kern bestehend aus Demonstration(en), die jeweils aktuelle thematische Schwerpunkte setzen, mit anschließenden oder aus der Demonstration heraus erfolgenden Sachbeschädigungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei:

„Vorhersehbare Handlungen sind das Werfen von Steinen auf Polizisten, das Umkippen, Verschieben, Demolieren oder Anzünden von Autos, das Abfackeln von Müllcontainern, Steinwürfe auf und das Demolieren von Telefonhäuschen, Bushaltestellen, Banken und großen Geschäften, seltener auch kleineren Läden.“[25]

Damit bewegen sich die Aktionen im Rahmen des Handlungsrepertoires autonomer Protestpraxis im Zusammenhang mit Massenveranstaltungen. Die Ausschreitungen werden im Vorhinein zumindest als Möglichkeit angedeutet, im Nachhinein jedoch stets als Reaktion auf Polizeigewalt dargestellt. Ritualisiert ist schließlich auch die Vor- und Nachbereitung der Demonstrationen und Ausschreitungen, welche sich teilweise in Szenezeitschriften und Onlineplattformen nachvollziehen lässt.

Als politischem Ritual[26] lassen sich dem linksradikalen Berliner 1. Mai verschiedene Funktionen zuschreiben. So dient das Ritual der Herstellung von Gruppenidentität und der Reproduktion von Selbst- und Feindbildern. Die (autonome) radikale Linke kann sich als gesellschaftlicher Machtfaktor inszenieren; die „Aufführung“ des revolutionären 1. Mai adressiert also die linke Szene wie die Berliner Stadtgesellschaft.[27]

Die Gewalt hat in diesem Kontext keinen instrumentellen Charakter. Dass aus ihr nicht der Startschuss für die Revolution hervorgeht und auch sonst kein greifbares politisches Ziel verwirklicht wird, ist allen Beteiligten klar. Vielmehr geht es um die Herstellung von Gefühlserlebnissen, in denen Widerständigkeit gegen das kapitalistische Gesellschaftssystem und seine Repräsentanten artikuliert werden und um das Erleben von Gruppensolidarität in kollektiven Kämpfen. Aber auch das Ausleben von Bedürfnissen der Abenteuerlust, beziehungsweise die Lust am Normbruch müssen beim Verstehen des Rituals einbezogen werden, was wohl insbesondere für die Beteiligung von Szeneexternen an den Ausschreitungen gilt, auf die selbst die Sicherheitsbehörden immer wieder hinweisen.

Die Stadtpolitik und die Polizei prägen durch Ge- und Verbote im Vorlauf, durch die Einsatzplanung sowie Aktion und Reaktion am 1. Mai selbst den Verlauf des Geschehens mit. Sie sind notwendiger Teil des Rituals.

Der tradierte Rahmen des Rituals ist keineswegs starr und in seinen Variationen spiegeln sich im Zeitverlauf die Spannungen und Konflikte innerhalb der radikalen Linken – etwa zwischen Antideutschen und Antiimperialisten, Undogmatischen und Dogmatikern oder Autonomen und Postsautonomen – sowie Reaktionen von Polizei und Stadtgesellschaft auf die Ausschreitungen, deren Intensität im Zeitverlauf zwischen Einzelaktionen (z.B. vereinzelten Flaschen- oder Steinwürfen) und Straßenschlachten schwankt. Im Zeitverlauf wechseln auch die Organisatoren der Demonstrationen, derer es zuweilen mehrere gibt, die jeweils von unterschiedlichen Gruppen oder Bündnissen organisiert werden. Der „revolutionäre 1. Mai“ ist schon bald nach seinem Ursprung in der Bewegung der Autonomen ein Ritual eines Großteils des heterogenen Spektrums der radikalen Linken geworden. Teilnehmer besuchen nicht selten mehrere der zeitversetzt stattfinden Demonstrationen. Auch wird gelegentlich der Abend des 30. April (Walpurgisnacht) in die linksradikalen Aktivitäten um den 1. Mai einbezogen. Die linksradikalen Berliner Maidemos konnten in der vergangenen Dekade zwischen 5.000 und 20.000 Teilnehmer mobilisieren.

Myfest

Zum Hintergrund der im historischen Vergleich abgeflauten Proteste gehört die Deeskalationsstrategie von Anwohnerschaft und Bezirk. Um Ausschreitungen rund um den 1. Mai einzudämmen, wird im Kreuzberger Zentrum seit dem Jahr 2003 ein Straßenfest mit internationalen kulturellen und kulinarischen Angeboten veranstaltet. Dem Myfest wird nachgesagt, das Ausmaß der Krawalle rund um den Revolutionären 1. Mai in Berlin sukzessive gesenkt zu haben. So ist auf indymedia zu lesen:

„Bis 2004 war abendlicher Krawall die Regel, seit 2005 ist er eher die Ausnahme. Das MyFest war ein sozialdemokratisches Integrationsprogramm par excellence: Große insbesondere migrantisch geprägte Teile der Kreuzberger Bevölkerung verkauften vor der Pandemie überteuertes Dosenbier an die Party-Meute statt sich Straßenschlachten mit den Einsatzkräften zu liefern.“ [28]

Bevor das Fest pandemiebedingt mehrfach abgesagt werden musste, zog es hunderttausende Festbesucher nach Kreuzberg, sodass der Zulauf sogar stellenweise durch die Polizei reguliert werden musste. Mehrfach zogen die Revolutionären 1. Mai Demos friedlich durch die Festivitäten, wichen aber zunehmend für den weiteren Verlauf der Demonstration auf benachbarte Stadteile aus.

Etwa seit 2010 spielt der Kampf gegen Gentrifizierung eine zentrale Rolle,[29] der angesichts der insgesamt kritischen Situation auf dem Wohnungsmarkt gerade in Großstädten wie Berlin oder Hamburg Möglichkeiten einer Anschlussfähigkeit an breite Bevölkerungsschichten bietet. Durchgängig bis in die Gegenwart vertreten ist der Internationalismus bzw. antiimperialistische Kampf, erkennbar an Solidaritätsbekundungen für Unabhängigkeits- und Widerstandsbewegungen mit radikal linkem Selbstverständnis. Strafverfahren für die Verwendung von Zeichen der verbotenen PKK gehören regelmäßig zum Nachspiel des Revolutionären 1. Mai.

Die nunmehr traditionell zu nennende Revolutionäre 1. Mai-Demonstration findet um 18 Uhr statt, startet in der Regel in Kreuzberg, führte in jüngerer Vergangenheit aber zumeist in andere Bezirke, so ins benachbarte Neukölln, nach Friedrichshain oder auch mal ins Regierungsviertel in Berlin-Mitte. Daneben gibt es um den 1. Mai einige weitere Veranstaltungen in Berlin, die aus der autonomen Szene heraus organisiert oder unterstützt werden und im weiten Sinne einem radikal linken oder linksalternativen Spektrum zuzuordnen sind. Als größte dieser Demonstrationen ist myGruni zu nennen: Seit 2018 gibt es diese satirische Demonstration, die am Morgen des 1. Mai mit mehreren Fahrradkorsos beginnt und nach einer Kundgebung in Grunewald am Nachmittag in Neukölln endet. Als Organisator tritt die Gruppe Quartiersmanagement Grunewald auf, die Mitglied in der hedonistischen Internationale ist. Die Veranstaltung mit zehntausenden Teilnehmer fokussiert die Themen Gentrifizierung und ungleiche Vermögensverteilung.[30]

Linksradikaler 1. Mai außerhalb Berlins

Autonome revolutionäre Maidemos sind kein Berliner Phänomen geblieben. Obschon Berlin zweifelsohne als Nukleus des Revolutionären 1. Mai bezeichnet werden kann, sind autonome revolutionäre Maidemos auch in verschiedenen anderen Städten anzutreffen. Auch hier kommt es zu Ausschreitungen. Größere Demonstrationen mit einigen tausend Teilnehmer findet man vor allem in Hamburg, wo es regelmäßig zumindest zu Würfen von Feuerwerkskörpern, Steinen und Flaschen aus dem Demonstrationszug auf die Polizei kommt. Vielerorts und besonders in den östlichen Bundesländern, stehen Maidemos der radikalen Linken im Kontext des Aktionsfeldes Antifaschismus und richten sich gegen Maiveranstaltungen der extremen Rechten wie etwa der Kleinparteien Der Dritte Weg oder der NPD aber auch der AfD.[31]

Die Autoren

Alexander Deycke

Tom Pflicke


[1] Haunss, Sebastian: Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2013, S. 172f.

[2] Zit. nach: Schuster, Dieter: Zur Geschichte des 1. Mai in Deutschland, Düsseldorf 1991, S. 7.

[3] Zit. nach F.W.: Das Alte Regime und der 1. Mai 1890, in: O.V.: 40 Jahre Maifeier, Broschüre, FES-Bibliothek Sig: SEL AA Z 927 D.

[4] Vgl. Korff, Gottfried: Volkskultur und Arbeiterkultur. Überlegungen am Beispiel der sozialistischen Maifesttradition, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 5 (1979), H. 1, S. 83-102, S. 87.

[5] Vgl. Schuster, Zur Geschichte des 1. Mai in Deutschland, S. 50ff.

[6] Vgl. Schönhoven, Klaus: Reformismus und Radikalismus: Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989, S. 132.

[7] Schuster, Zur Geschichte des 1. Mai in Deutschland, S. 80.

[8] Vgl. Rucht, Dieter: „Heraus zum 1. Mai!“ – Ein Protestritual im Wandel, in: ders. (Hg.) Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt a.M. 2001, S. 143-172, hier S. 162

[9] Vgl Schuster, Zur Geschichte des 1. Mai in Deutschland, S. 108.

[10] Vgl. Rucht, „Heraus zum 1. Mai“, S. 166f.

[11] Vgl. ebd., S. 159.

[12] Vgl. die Themenseiten zum 1. Mai des MAO-Projekts, URL: https://www.mao-projekt.de.

[13] Vgl. Kühn, Andreas: Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre, Frankfurt a. M. 2005, S. 148f.

[14] Vgl. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzent. Unsere kleine Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2002.

[15] Schultze, Thomas u. Almut Gross: Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der Autonomen Bewegung, Hamburg 1997, S. 79.

[16] Vgl. Geronimo: Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin 1995, S. 175

[17] Geronimo, ebd.

[18] Wurm, Philipp: Eins, zwei – Keilerei, in: spiegel.de, 30.04.2017, URL: https://www.spiegel.de/geschichte/1-mai-in-berlin-die-geschichte-der-kreuzberger-krawalle-ab-1987-a-1144792.html [zuletzt eingesehen am 12.04.2023].

[19] Vgl. ebd.

[20] Vgl. Schwarzmeier, Jan: Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Göttingen 1999, S. 109; Bemerkenswert ist, dass unter den 47 Personen, die in jener Nacht verhaftet wurden, kein einziger Angehöriger der autonomen Szene war. Vgl. Schultze u. Gross: Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der Autonomen Bewegung, Hamburg 1997, S. 80f.

[21] Vgl. o.V., „Ich war der Feuerteufel, in: spiegel.de, 01.05.2007, URL: https://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/mythos-maikrawalle-ich-war-der-feuerteufel-a-480206.html [zuletzt eingesehen am 12.04.2023].

[22] Vgl. A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung, Berlin 2008, S. 194.

[23] Vgl. ebd., S. 194.

[24] Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme, S. 182; O.V., Die Geschichte des Revolutionären 1. Mai in Berlin, URL: https://autox.nadir.org/archiv/chrono/1.mai_03.html#88 [zuletzt eingesehen am 14.04.2023].

[25] Lehmann, Frauke u. Norberg Meyerhöfer: „Wünsche mir, dass es irgendwann so kracht wie früher“ – Der Revolutionäre 1. Mai als linksradikales Ritual, in: Rucht, Dieter (Hg.): Berlin, 1. Mai 2002. Politische Demonstrationsrituale, Wiesbaden 2003, S. 55-100, S. 76

[26] „Unter Ritualen verstehen wir eine bestimmte Gattung von Aufführungen, die der Selbstdarstellung und Selbstverständigung, Stiftung bzw. Bestätigung oder auch Transformation von Gemeinschaften dienen und unter Anwendung je spezifischer Inszenierungsstrategien und -regeln geschaffen werden.“ Fischer-Lichte, Erika: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat u. Steffen Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 33-54.

[27] Vgl. hierzu und im Folgenden: Lehmann u. Meyerhöfer, S. 74ff.

[28] Westberliner Veteran: 35 Jahre. der 1. Mai als Spiegel der Zeit, URL: https://de.indymedia.org/node/186505 [zuletzt eingesehen am 28.04.2022].

[29] Vgl. Litschko, Konrad: „Wieder Bodenhaftung erlangen“. Bewegungsforscher Dieter Rucht zum 1. Mai, in: taz.de, 02.05.2011, URL: https://taz.de/Bewegungsforscher-Dieter-Rucht-zum-1-Mai/!5121552/ [zuletzt eingesehen am 28.04.2022].

[30] Vgl. URL: https://mygruni.de/ [zuletzt eingesehen am 28.04.2022].

[31] Vgl. Peter, Erik: Kämpferisch wie immer. Der Tag der Arbeit und seine Rituale, in: taz.de, 30.04.2022, URL: https://taz.de/Der-Tag-der-Arbeit-und-seine-Rituale/!5849314/ [zuletzt eingesehen am 14.04.2023]. Zur Situation in Leipzig vgl.: Raabe, Andreas: Polizei will „Friedlichkeit“ – linke Szene gespalten, in: t-online.de, 30.04.2022, URL: https://www.t-online.de/region/leipzig/news/id_92085650/1-mai-in-leipzig-auf-diese-demonstrationen-bereitet-sich-die-polizei-vor.html [zuletzt eingesehen am 13.01.2023].